New Work über den Tellerrand hinausgedacht

Klaus Botta, 22.08.2023

Viele denken bei dem Begriff „New Work“ vor allem an die Digitalisierung der Arbeit, an Beschäftigung im Home-Office, verringerte Arbeitszeiten, „Remote Work“ – also ortsunabhängigem Arbeiten, bis hin zum sogenannten „Workation“ ein Kunstwort aus den Begriffen Work und Vacation. Gerade für jüngere Arbeitnehmer wie die Generation Y  und die Gen Z spielt die harmonische Koexistenz von Beruf und Privatleben eine wichtige Rolle. Nicht zuletzt haben auch der Umweltschutz und die Resourcenschonung einen bedeutenden Stellenwert beim Phänomen „New Work".

In diesem Artikel versuche ich aus meiner Erfahrung als Unternehmer, Arbeitgeber und reflektiertem Bürger einige zusätzliche Aspekte anzusprechen, die aus meiner Sicht bisher keine oder zu wenig Berücksichtigung finden.

Sie, als geschätzte Leser, werden diesmal keine Hinweise oder Analogien zu unseren Armbanduhren finden, weil ich der Meinung bin, dass ein solch wichtiges Thema es verdient hat, unabhängig von eigenen Zielen und Interessen angesprochen zu werden.

 

„New Work“ im Sinne der Anpassung bzw. Neugestaltung unserer Arbeitswelt ist aus meiner Sicht keine Mode oder Option, sondern eine Notwendigkeit, um den anstehenden Veränderungen in unserer globalisierten Welt Rechnung zu tragen. Allerdings ist die differenzierte Berücksichtigung aller aktuellen Rahmenbedingungen und Motiven für die Umgestaltung der Arbeitswelt entscheidend für den Erfolg solcher Veränderungen.

Wenn Bequemlichkeit und Eigennutz die bestimmenden Kräfte für Veränderungen sind, wird unsere Wirtschaft (und damit wir alle) irreversiblen Schaden nehmen. Wenn sich der Blick allerdings auf die Veränderungen der globalen Gegebenheiten (rapide wachsende Bedeutung von aufstrebenden Ländern) und der lokalen Möglichkeiten (neue Werte, neue Bildungsstruktur, neue Arbeitsmittel) richtet, kann New Work dabei helfen, den hart erarbeiteten Wohlstand unserer Gesellschaft – zumindest halbwegs – zu erhalten. „New Work“ muss allerdings immer sowohl im lokalen als auch im globalen Umfeld betrachtet werden. 

Der Wohlstand Europas und im Besonderen Deutschlands beruht im Wesentlichen auf außergewöhnlichen geistigen Leistungen, verknüpft mit viel Fleiß und persönlichen Engagement. Ohne diese drei Komponenten wird es zukünftig hierzulande keinen vergleichbaren Lebensstandard mehr geben, denn die Welt um uns herum hat sich verändert und verändert sich rapide weiter. Das gilt in Besonderem Maße für aufstrebende asiatische Staaten wie China und Indien.

Unsere Vormachtstellungen und Wissensmonopole schwinden zusehends, und zwar im gleichen Maße, wie diese Staaten in puncto Innovation und Produktion voranschreiten.

Das ist ein Wettlauf, den wir quantitativ niemals gewinnen können – nur qualitativ. Allerdings können wir auch mit den besten Ideen und Konzepten bei immer weniger Arbeitszeit nicht gegen die schier unerschöpfliche Arbeitsleistung und die Rahmenbedingungen in Asien bestehen. Neben Intelligenz und Innovationskraft sind auch in Zukunft weiterhin Fleiß und ideelles Engagement gefragt. Darüber hinaus braucht es allerdings auch den Willen zur Veränderung. So sollten wir vor allem unsere Kernkompetenzen erkennen, weiter ausbauen und auf der Gegenseite unsere lähmende Bürokratie drastisch abbauen.

„Wer aufhört besser zu werden, hat aufgehört gut zu sein“. Das Zitat von Philip Rosenthal bringt es auf den Punkt.

 

Ich mag den Begriff „Human Resources“ nicht besonders. Erstens degradiert er Menschen zu Ressourcen, so wie Erdöl, Erz, oder Energie. Menschen sind vielmehr Individuen und Persönlichkeiten mit spezifischen Fähigkeiten und Schwächen.

Je höher eine Tätigkeit qualifiziert ist, desto weniger ist ein dort tätiger Mensch durch einen beliebigen anderen ersetzbar. Das unterscheidet Menschen grundlegend von „nichthumanen Ressourcen". 

Der Schlüssel für den Erfolg unserer westlichen Gesellschaft liegt aber gerade in dem spezifizierten und individualisierten Einsatz von Menschen.

Mit anderen Worten: Nur wenn Menschen dort arbeiten, wofür sie besonders gut geeignet sind, können sie ihr Potential voll ausschöpfen und einen hohen produktiven gesellschaftlichen Beitrag leisten. Wenn das gelingt, ist eine solche Gesellschaft enorm leistungsfähig und damit wirtschaftlich bedeutsam und geopolitisch relevant.

New Work muss dementsprechend schon bei der „New Education“ (Bildung) starten, wenn die später daraus resultierende „New Work“ effizient und erfolgreich sein soll.

 

Die Wahl der Berufsrichtung ist meiner Meinung nach die zweit-wichtigste oder vielleicht sogar wichtigste Entscheidung im Leben eines Menschen. Zum einen verbringt er/sie üblicherweise einen beträchtlichen Teil des Lebens mit beruflichen Tätigkeiten, zum anderen prägt kaum eine Tätigkeit so sehr, wie der Beruf. Von daher gebührt der Berufswahl eine besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt.

Folglich wird es eine wesentliche Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft sein, dass Menschen entsprechend ihren Fähigkeiten und ihren Charakteren eingesetzt werden. 

Mensch A ist nicht gleich Mensch B. Neben unterschiedlichen Begabungen gibt es auch unterschiedliche Motivationsgrade. Während der eine möglichst viel Freiheit und Selbstbestimmung braucht, benötigt und schätzt ein anderer klare Vorgaben und Grenzen, um sich in seinem Arbeitsumfeld sicher und zielorientiert bewegen zu können. Das Erkennen von Stärken und Schwächen, sowie die typgerechte Einordnung und passende Bildung sollten immanenter Bestandteil und ständiger Begleiter der schulischen und beruflichen Ausbildung sein. New Work muss, wenn sie gelingen soll, nicht erst im Beruf, sondern bereits in den vorschulischen und schulischen Bildungsmodellen beginnen. New Work muss deduktiv gedacht und induktiv implementiert werden.

 

Ich behaupte, dass Menschen, die in ihrem idealen Kompetenz- und Leistungsbereich arbeiten, automatisch wesentlich leistungsfähiger und zufriedener sind (= intrinsische Motivation) – auch ohne Incentivierung (= extrinsische Motivierung). Das ist eine ideale Voraussetzung für eine sehr leistungsfähige und zufriedene Gesellschaft. Und damit ein echtes Ziel für New Work.

 

Wir leben als Gesellschaft in einem Wohlstand, der im Wesentlichen nicht auf den Leistungen unserer eigenen Generation fußt, sondern auf denen unserer Vorfahren. Die Leistungen unserer Generation werden wiederum entscheidend für den Wohlstand unserer Nachkommen sein. Es existiert also immer eine beträchtliche Verschiebung von einer (aktuellen) Aktivität / Leistung und deren Auswirkungen auf den (zukünftigen) Wohlstand einer Gesellschaft. Diese Verschiebung nenne ich „Wirkungsdilatation“ (abgeleitet von der „Zeitdilatation“ - einem Begriff aus der Relativitätstheorie). Wer also eine zukunftsorientierte „New Work“ anstrebt, muss sich auch ihrer Wirkung für die nähere und weitere Zukunft bewusst sein. Egoistisches Denken im Sinne von „möglichst wenig Arbeit“ ist hier nicht sinnvoll und langfristig sicher auch nicht sozial.

 

New Work sollte immer auch volkswirtschaftlich und zukunftsbezogen gedacht werden. New Work ist mehr als nur die Frage „Welche Leistungen und Benefits müssen Arbeitgeber anbieten, um auch in Zukunft noch qualifizierte Arbeitskräfte zu finden und zu halten?“. Wir sollten uns vielmehr die Frage stellen „Wie müssen wir die gesamte Bildungs- und Arbeitswelt verändern, um mit unserer Volkswirtschaft auch in Zukunft noch konkurrenzfähig zu sein?“ Dazu müssen wir viele tradierte Denkweisen und Methoden grundlegend verändern. Quasi durch ein „New Thinking“. Andernfalls droht unsere aktuell noch einigermaßen funktionierende Volkswirtschaft zwischen semiprofessionellen Arbeitsmodellen und einer sich rasant entwickelnden, mächtigen Konkurrenz im Ausland erdrückt zu werden.

 

Für mich ist der aktuelle Modebegriff „Work-Life-Balance“ ein „Denken in die falsche Richtung“. „Work“ ist nach meinem Verständnis vielmehr ein wesentlicher Teil des „Life“ und nicht der Gegenspieler. Selbstverständlich kann das Leben nicht nur aus Arbeit bestehen. Arbeit sollte allerdings möglichst wenig als Last betrachtet werden, die es gilt, möglichst schnell hinter sich zu bringen, damit das eigentliche Leben beginnen kann. Diese Denkweise, die im Wesentlichen auf den Umständen in den Anfängen der Industrialisierung beruht, ist im besten Sinne „Old Work“ und sollte durch ein möglichst selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Arbeiten ersetzt werden. Im Idealfall sollte die Arbeit ein wesentlicher und erfüllender Teil des Lebens sein. Das lässt sich sicher nicht in allen Berufen und zu 100% umsetzen, sollte aber zugunsten einer höheren Leistung und Zufriedenheit aller Beteiligten so weit wie möglich angestrebt werden. Vom Ziel her deckt sich diese Denkweise mit den proklamierten Werten von „New Work“. Der Anspruch steckt in einer sozial verantwortungsvollen Umsetzung.

 

Ich stelle die Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, anstelle der oft beschworenen „Work-Life-Balance“ über eine aus meiner Sicht sinnvollere „Statik-Dynamik-Balance“ nachzudenken. Nach meinen Erfahrungen und Beobachtungen mangelt es den Menschen weniger an Freizeit als vielmehr an sinnvoller Bewegung. Und zwar sowohl in der Freizeit als auch bei der Arbeit.

Unser Arbeitsalltag findet üblicherweise im Sitzen und vor dem Bildschirm statt. Das ist in vielen Fällen unumgänglich, jedoch nicht in allen. Mit etwas Flexibilität und neuem Denken lassen sich bestimmte Arbeiten wie z.B. Besprechungen im kleinen Kreis oder Brainstormings genauso gut oder oft sogar besser während eines Spaziergangs durchführen. Wir bei BOTTA design praktizieren das schon seit vielen Jahren mit Erfolg und guter Resonanz aller Beteiligten. Auch Pausen lassen sich zu aktiver Bewegung nutzen. Mit dem entsprechenden Willen geht hier mehr als man im ersten Moment denkt.

Umso statischer das Berufsleben stattfindet, desto dynamischer und bewegungsorientierter sollte logischerweise die Freizeit sein. Hier lässt sich „der Bildschirm“ oft viel einfacher durch Bewegung und/oder Treffen mit Freunden eintauschen. Soziale Begegnungen statt sozialer Medien. Hier liegt jetzt schon die Balance in der Hand jedes Einzelnen. Hier ist darüber hinaus auch ein gesamtgesellschaftliches neues Bewegungsbewusstsein angebracht. Auch an dieser Stelle können wir viel von traditionellen asiatischen Kulturen lernen, die Bewegung selbstverständlich und harmonisch in den Alltag integrierten.

Klaus Botta

Zufriedene Mitarbeiter entstehen nachweislich nicht durch maximale Incentivierung, sondern durch eine sinnstiftende Tätigkeit. In diesem Sinne sollte die Arbeit der Zukunft demokratisiert werden. Hier sind sicher einige bestehende Arbeitsmodelle nicht mehr zeitgemäß. (Leistungsunabhängige Bezahlung, Vergütung nach festem Zeitschema, etc.) Auch hier wäre eine grundlegende Reform, die auf die aktuellen und zukünftigen Gegebenheiten ausgerichtet ist, sinnvoll.

Die aktuellen Arbeitsmodelle richten sich immer noch an der (frühen) Industriegesellschaft aus und nicht an der längst etablierten Informationsgesellschaft. Natürlich sind hier auch, in Abhängigkeit von der Arbeitsart, Mischformen und Derivate denkbar und sinnvoll (siehe oben). Eine echte Aufgabe für eine sinnvolle und zukunftssichere „Neue Form der Arbeit".

 

Ich hoffe, ich konnte mit meinen sehr persönlichen Erfahrungen und Gedanken den einen oder anderen Denkanstoß liefern, um unsere zukünftige Arbeitswelt auf eine stabile und lebenswerte Zukunft auszurichten.

 

Ihr Klaus Botta

Klaus Botta

7 Kommentare


  • Andrea Hüttmann

    Lieber Herr Botta,
    es hat mir Freude bereitet, Ihren Blog-Beitrag zu lesen – ebenso wie das Interview, das Dennis Steinmetz im Rahmen seiner Thesis mit Ihnen geführt hat. Viele Ihrer Gedanken haben meine bestätigt; dennoch bringen Sie eine andere Perspektive und eine ganz eigene Herangehens- und Denkweise mit, was mich nochmal inspiriert und zum Nachdenken gebracht hat. Ihren Ansatz der Dynamik-Statik-Balance finde ich klasse. Das viele Sitzen macht unsere Gesellschaft krank und träge – körperlich und mental. Wenn man verstanden hat, dass körperliche Bewegung immer auch mentale Agilität auslöst, ist man schon weit. Und wenn es Arbeitgebern gelingt, Bewegung in den Alltag zu integrieren, ist das aus meiner Sicht ein großer Gewinn. Zum Schmunzeln gebracht hat mich Ihre Analyse der Gen Z (im Interview mit Dennis): “Ich bin toll und ich bin selten” ;-). Dass dieses Selbstverständnis in Kombination mit einer schwächeren Resilienz zu Problemen führen kann, liegt auf der Hand (ich erlebe das in meinem beruflichen Alltag ehrlich gesagt recht häufig; sehe aber zugleich auch oft genug das Gegenteil – zum Glück :-))
    Danke für das Teilen Ihrer Gedanken – freue mich auf den nächsten Live-Austausch.
    Herzliche Grüße von Andrea Hüttmann

  • Sylvia Perkins

    Was für ein gelungener Beitrag zum Thema “New Work”. Besonders mag ich Ihren Ansatz, statt der jahrelang beschworenen “Work-Life-Balance” umzudenken in eine “Statik-Dynamik-Balance”. Als erfahrene Personalerin bin ich natürlich komplett bei Ihnen, dass intrinsische und extrinsische Motivierung auch heute noch sehr wichtige Faktoren sind, die es zu berücksichtigen gilt und damit den Menschen in allen Belangen des Arbeitsprozesses in den Vordergrund zu stellen und nicht, wie Sie ja so schön anmerken, sie nur als “Human Resources” zu betrachten. Nur so kann man Mitarbeiter langfristig an sein Unternehmen binden, was besonders für uns und unseren Standort Deutschland auch für die Zukunft gesehen so wichtig ist. Mit vielen Grüße Sylvia Perkins

  • Patrick Weigert

    Lieber Herr Botta,

    herzlichen Glückwunsch und vollen Zuspruch zu Ihrem überaus interessanten Aufsatz und Ansatz.
    Es ist leider so, wie Sie ausführen. Deutschland ist auf dem besten Weg, im globalen Wettbewerb, den Anschluss zu verlieren. Eine Entwicklung die bereits vor langer Zeit – ich würde sagen, um die Jahrtausendwende herum – ihren Anfang genommen hat. Manche meiner Gesprächspartner und Geschäftsfreunde meinen sogar, eher noch früher. Mag sein; ich für meinen Teil war zu dieser Zeit schon seit vielen Jahren für einen großen deutschen Premiumhersteller tätig und habe in der Rückblende – beginnend mit der Jahrtausendwende – erste bedenkliche Signale in der Arbeitswelt wahrgenommen.

    Das Unternehmen, bei dem ich 1984 einst als Sachbearbeiter begann zu arbeiten, befand sich zu jener Zeit in schwierigem Fahrwasser. An allen Ecken und Enden musste gespart werden. Brauchte ich Büromaterial, so konnte ich das im Chefsekretariat nicht einfach ausfassen, sondern musste kurz begründen, weshalb schon wieder ein Bleistift, oder ein Block mit Schreibpapier von Nöten sei. Und bevor der kurze Bleistift endgültig ausgemustert wurde, gab es eine Stiftverlängerung.

    Das waren Zeiten der Entbehrung, die nicht nur mein unmittelbares Arbeitsumfeld erfasst hatte, sondern auch zahlreiche andere Industriezweige.

    Meine Affinität zu mechanischen Uhren war mir durch mein Elternhaus fast schon in die Wiege gelegt worden. Mein Interesse an den filigranen und hochkomplexen Fertigungsprozessen war so groß, dass ich im April 1989 beschloss, für ein paar Tage ins Vallée de Joux zu fahren und beim ein oder anderen Uhrenatelier vorstellig zu werden und nachzufragen, ob ich einen Blick hinter die Kulissen werfen dürfe.

    Egal, ob bei der gerade erst wiederbelebten Marke Blancpain, Jean-Claude Biver öffnete mir damals selbst die Tür, bei Jaeger-LeCoultre, bei Audemars Piguet oder auch bei Swatch, wo in Les Bioux in den Räumen von Valjoux gerade die vollautomatische Produktionslinie für die revolutionäre Plastikuhr hochgefahren wurde. Überall wurde ich herzlichst empfangen und mit allem versorgt, was meine Wissbegierde und mein Interesse stillen sollte. Statt, wie ursprünglich geplant, ein paar weniger Tage, bin ich den gesamten Urlaub – insgesamt 14 Tage – dort geblieben.

    Irgendwie bekam ich immer mehr das Gefühl, wir sind alle eine große Familie. Eine Familie, der es gegenwärtig nicht sonderlich gut geht. Jeder muss irgendwie zusehen, wie´s voran geht und jeder muss um seine Kunden buhlen. Die größte Wirtschaftskrise seit den dreißiger Jahren hatte überall und unübersehbar ihre tiefen Spuren hinterlassen.

    Aber alle, ob Uhrenhersteller oder meine Branche, alle saßen wir im gleichen Boot und alle blickten nach vorne, waren voller Tatendrang und von Willen und Ehrgeiz getragen, die Sache zum Besseren zu wenden, für eine bessere Zukunft.

    So wie es mit der Uhrenindustrie langsam aber stetig wieder voran ging und die Quarzkrise irgendwann überwunden schien, so ging es auch in meiner Branche zügig bergauf. Das Sparen einerseits und das persönliche Engagement eines jeden Einzelnen andererseits hat sich also gelohnt, möchte man meinen.

    Dann begann aber mit der Jahrtausendwende ein Wandel, den ich in der Rückblende als Wendepunkt bezeichnen möchte. Formalismen begannen einen immer größer werdenden Rahmen einzunehmen. Entscheidungsbefugnisse wurden, zugunsten sich auftürmender Hierarchien, beschnitten. Zuständigkeiten wurden immer genauer definiert und festgelegt. Unternehmensberater wie McKinsey hielten Einzug und wurden beauftragt, Prozesse und Abläufe zu optimieren. Irgendwie hatte ich immer mehr den Eindruck, der Einzelne im Getriebe eines größeren Unternehmens soll ersetzbarer, austauschbarer werden und letztlich auf eine Personalnummer reduziert werden. Anglo-amerikanische Einflüsse hielten Einzug.

    Auch die Diskussionskultur verengte sich. Wurde in den 80er Jahren in kleinen Gruppen oft noch auf dem nach Hause Weg kontrovers um die besten Lösung gerungen und diskutiert, hat sich das in den Nullerjahren mehr und mehr von der Sache weg hin zu Diskussionen um Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten verschoben. Entscheidungen wurden auch nicht mehr in kleinen Gruppen oder auf Leitungsebene getroffen. Nein, die Teams wurden größer und die Zahl jener, die wichtige, häufig aber auch weniger wichtige Beiträge zu leisten hatten, nahm ebenfalls zu.

    Das Zeitalter der Powerpoint-Ingenieure begann. Am Ende wurde nach endlosen Runden eine Entscheidung zu Protokoll gegeben, die dann aber, gar nicht so selten, im Nachgang erneut hinterfragt und mit neuen Aspekten versehen, nochmals aufbereitet und zur abermaligen Entscheidung vorgelegt werden musste. Der Grund? Es wollte niemand mehr Verantwortung übernehmen. Jeder versuchte, aus der Schusslinie zu kommen und die Verantwortung entweder eine Stufe nach oben oder nach unten zu delegieren. Die da oben sollen entscheiden, oder die da unten sollen gefälligst umsetzen, war häufig zu hören. Ebenfalls immer häufiger zu hören war: „Dafür bin ich nicht zuständig", oder “das Problem fällt doch gar nicht in meine Zuständigkeit”. Der Begriff TEAM wurde letztlich mit Toll Ein Anderer Macht´s übersetzt. Und Kompetenzen verschwanden zusehends oder wurden sogar gezielt ausgelagert zu Subunternehmen und Lieferanten, weil es dort billiger ist. Man muss nur sehen, was wir heute alles aus China zugeliefert bekommen. Es gibt kaum noch etwas, wo nicht “Made in China” draufsteht, oder zumindest drinsteckt.

    Schwerfällige und formalisierte Abläufe reduzieren den Spaßfaktor auf Arbeitsebene ganz erheblich. Dennoch ging es den Unternehmen bis vor Kurzem noch erstaunlich gut, satte Gewinne wurden eingefahren, ergo kam niemand auf die Idee, dass man den optimalen Kurs für effizientes und erfolgreiches Handeln, das obendrein auch noch Freude bereitet, bereits längst verlassen hatte.

    Wurde Kritik an aufgeblähten, uneffizienten Abläufen oder zu komplexen und viel zu kostenintensiven Lösungen geäußert, so wurde man gelegentlich als Störenfried oder Quertreiber kategorisiert.

    Als sich dann etwa ab 2010 die Politik stärker in das persönliche und unternehmerische Umfeld einklinkte wurde es endgültig heiß. Die Floskel von irgendwelchen „alternativlosen“ Entscheidungen war immer häufiger zu hören und setzt sich bis heute fort. Ob es damals der Atomausstieg und die daran gekoppelte Energiewende war oder heute das für 2035 festgemachte AUS für den Verbrennungsmotor und die einseitige Fokussierung auf den E-Antrieb sind, wirklich zu Ende gedacht und mit allen Konsequenzen betrachtet, wird eigentlich nichts mehr. Immer häufiger wird mit heißer Nadel gestrickt.

    Dabei stand „Made in Germany“ einmal für absolute Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit, höchste Ingenieurskunst und „Gebaut für die Ewigkeit“. Heute gilt das nur noch eingeschränkt.

    Und wenn sich die Politik darüber hinaus mittlerweile einer Sprache bedient, die eher am Biertisch oder in der Gosse zu verorten wäre, wie der „Doppel-Wums“ oder jetzt kommt „der ganz große Schub“ und sich im Parlament überdies hauptsächlich mit Themen beschäftigt, die mehr der Bestätigung und Befriedigung irgendeiner Ideologie dienen, statt sich mit der Zukunftsfähigkeit des Landes im globalen Wettbewerb aktiv auseinanderzusetzen, dann sollten eigentlich sämtliche Sirenen lautstark ertönen. An dieser Stelle sind in besonderem Maße jene Unternehmer gefragt, die nicht die unmittelbare Absicht haben, ihre Betriebe zu verkaufen, zu verlagern oder still zu legen.

    Womit ich gedanklich wieder bei 1984 wäre – gemeint ist nicht der dystopische Roman von George Orwell, sondern der Berufsalltag zur damaligen Zeit.

    Vielleicht ist Deutschland ganz schlicht und einfach zu übermütig geworden und war der Überzeugung gefolgt, die Bäume wachsen in den Himmel und der Weg geht stetig weiter nach oben. Völlig egal, was wir uns vornehmen, wir sind nicht zu bremsen, denn wir sind die Besten und wir müssen der Welt zeigen, wie und wohin die Reise geht und nur wir wissen wo vorne ist. Daraus resultiert letztlich der heutige Moralismus, den wir in alle Welt hinaustragen.

    Aber mit Moral alleine und/oder der damit zuweilen einhergehenden Arroganz und Ignoranz ist noch nie jemand zum Sieger gekürt worden. Das Versagen in sämtlichen sportlichen Wettbewerben der jüngsten Zeit – vom Fußball anfangen bis zu den Leichtathletikweltmeisterschaften, aus denen Deutschland erstmals ohne eine einzige Medaille hervorging – ist blamabel und ein Spiegelbild dessen, wo Deutschland mittlerweile steht.

    Es muss dringend wieder eine Rückbesinnung zu belastbaren Zahlen, Daten und Fakten, mathematischen, physikalischen, chemischen und biologischen Zusammenhängen sowie eine konstruktive und offene Auseinandersetzung stattfinden. Es gibt nicht DIE Wissenschaft, auf die sich so manch einer gerne beruft. Sondern es gibt lediglich Wissenschaftler (und zwar weltweit sehr viele), die mit ihrem Tun Wissen schaffen; Thesen und Antithesen. Niemand hat die alleinige Wahrheit für sich gepachtet. Es muss wieder möglich sein, auch völlig anderer Meinung zu sein; nur dann hat die beste Lösung im Sinne einer gelungenen Synthese wieder eine Chance.

    Diese Herangehensweise, die all jene, die in der Babyboomergeneration zur Schule gegangen und ausgebildet wurden, erfahren und gelernt haben, hat gezeigt, zu was Deutschland einst fähig war. Deutschland war in vielen Disziplinen die Nummer Eins.

    Arbeit muss sich wieder lohnen und vor allem auch Spaß machen. Was wir brauchen ist kein „großer Schub“, sondern eine Schubumkehr. Aber vielleicht bedarf es dazu erst wieder einer neuen Bescheidenheit, eine Art Schrumpfkur, wie damals 1984 als meine berufliche Laufbahn in der deutschen Industrie begann und uns die Bleistifte von der Sekretärin noch persönlich zugeteilt wurden.

    Mit den besten Grüßen in den schönen Taunus

    Patrick Weigert
    Deutsches Uhrenportal

    Als ergänzende Lektüre empfehle ich unlängst einen in der “WELT” erschienen Aufsatz von Prof. Dr. Wolfgang Reitzle, einem der wohl erfolgreichsten deutschen Industriemanager der Nachkriegsgeschichte.

    https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus246714648/Deutschland-Der-anstrengungslose-Wohlstand-ist-eine-Illusion.html

  • Wolfgang Nagy

    Hallo Klaus,
    Du schreibst, der Wohlstand Europas und im Besonderen Deutschlands beruht im Wesentlichen auf außergewöhnlichen geistigen Leistungen, verknüpft mit viel Fleiß und persönlichen Engagement. Das gilt in Besonderem Maße für aufstrebende asiatische Staaten wie China und Indien. Das ist ein Wettlauf, den wir quantitativ niemals gewinnen können – nur qualitativ…
    Zum Thema geistigen Leistungen und viel Fleiß und persönlichen Engagement. Folgendes ist nur einer ein kleines Beispiel über Bildung in China. Es sind ‘nur’ Zahlen.
    Deutschland:
    Studiengang Elektrotechnik nun bewerben sich 250 Abiturienten auf 100 Plätze.
    Quelle:
    https://www.uniturm.de/magazin/studiengaenge/numerus-clausus-1214

    China
    Von 1.000 Bewerbungen erhalten im Durchschnitt gerade einmal 2 den gewünschten Studienplatz.
    Ungefähr 25 Millionen Menschen studieren in China an über 2.000 Hochschulen.
    Quelle:
    https://www.uniturm.de/magazin/ausland/studieren-in-china-1273

  • Prof. Dr. Stefan Hencke

    Einige interessante Thesen wurden in dem Beitrag gut angeschnitten. Ich gehe auch vollkommen konform damit, dass neben Intelligenz und Innovationskraft auch in Zukunft weiterhin Fleiß und ideelles Engagement gefragt ist. Das sind Werte, die Mitteleuropa groß gemacht haben. Ich hoffe, dass auch die nachfolgenden Generationen diese wichtigen Werte nicht verlieren werden. Der in dem Beitrag beschriebene Impuls zum Thema Bildung sehe ich genauso. Bildung und Kultur ist das Fundament jeglichen Handelns. Aber werden in der „New Education“ die Kinder und Jugendliche dahingehend ausgebildet und gefördert? In den MINT-Berufen in Deutschland gibt es immer weniger Auszubildende oder auch Studierende. Mittelfristig wird hier eine große Lücke entstehen. Das hat Auswirkungen auf alle Arbeitsfelder. Und noch eine Anmerkung zum Thema Arbeit. Arbeit und Erfolg wird meistens mit der Erreichung eines Zieles gleichgesetzt. Erfolgreich bist Du aber nur dann, wenn die Prozesse stimmen, die Dich zu Deinen Zielen führen. Das ist letztlich auch der Punkt, der im Bereich Work-Life-Balance zum Ausdruck gebracht wurde. Dem stimme ich genauso zu. Kurzum zum Blogbeitrag: Ein guter und wichtiger Impuls zur allgemeinen Diskussion des Themas.


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